Foto: Klaus Raasch

Rede von Jürgen Bönig zur Eröffnung der BuchDruckKunst am 15. Februar 2019

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

vor knapp einem Jahr konnten wir den Eintrag der verschiedenen traditionellen Drucktechniken in die nationale UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes feiern – Bemerkungen der Direktorin des Druckmuseums Leipzig, Susanne Richter, die das wesentlich organisiert, mit dem Bund Bildender Künstler durchgesetzt und erreicht und dafür einen großen Applaus verdient hat, und meine damalige Rede finden sie in dem schönen Beiheft zur jetzigen BuchDruckKunst.

Wenn wir uns deshalb bemühen, die traditionellen Techniken zur Gestaltung und Herstellung eines Buches durch Lehren und Lernen an eine neue Generation weiterzugeben – denn eben darin besteht die Immaterialität des Kulturerbes: in der Fähigkeit von Menschen, es zu machen und sich ihren Teil dabei zu denken – und wir den Buchmarkt betrachten, kommt sofort die Frage auf Wird überhaupt noch Gedrucktes gelesen? Schauen die meisten jungen Menschen nicht auf ihr Smart Phone, wenn sie die Treppe herunterstolpern und im Wege stehen?

Deshalb hier einiges zur Verwirrung der Begriffe unter dem in der Einladung angekündigten Titel Virtuelles und analoges Lesen – und dabei sollte Virtuelles großgeschrieben werden, nicht nur, weil es am Anfang steht.

Virtuelles im Digitalen

Eine Kollegin, die Literaturwissenschaft in Wisconsin lehrt, schreibt dazu in dem Buch Textkünste / Buchrevolution um 1500 (Darmstadt 2016, S.184): „Seit einigen Jahrzehnten läßt sich erst Text ins Immaterielle der elektronischen Speicher verwandeln…“.

Und ein Freund behauptete: Es lasse sich gar nicht mehr eindeutig feststellen, wo ein Text in der Cloud gespeichert sei – er sei einfach überall, aber auf jeden Fall „oben“.

Und Paul Mason, Jeremy Rifkin und Timo Daum nehmen mehr oder weniger an, dass sich digitale Informationen und Programme gar nicht mehr kapitalistisch verkaufen ließen, weil sie beliebig zu geringsten Kosten, gegen Null gehend, vervielfältigen und gebrauchen ließen und deshalb ein neues Wirtschaftssystem Platz greifen müsse.

Dieses doch sehr unterschiedliche Verständnis von Virtualität und von Immaterialität der Informationsverarbeitung blamiert sich spätestens,

  • Wenn das Smart Phone auf seine Glasscheibe kracht und der Bildschirm kaputtgeht,
  • Im Keller der City-Nord in Hamburg der Strom ausfällt und einen der Rechner der Cloud lahmlegt und
  • Wenn die Schreiberinnen für das Internet keine Texte mehr liefern, weil sie damit ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können, und nur noch durch Werbung und Datenverkauf finanzierte Inhalte platziert werden.

Die Virtualität und Immaterialität von Beziehungen, Bedeutungen und Inhalten hat sich durch Digitalisierung nicht verändert. Bedeutung, Ordnung und Sinn sind immer schon an materielle Träger geheftet und zugleich immer schon immateriell in dem Sinne gewesen, als sie mehr sind, als was wir anfassen können, eben eine Beziehung von Menschen zu den Dingen, die unsere Wirklichkeit ausmachen. Und dies ist durch digitale Transportformen nicht anders geworden.

Speicher

Es gibt nur analoges Lesen, kein virtuelles oder digitales Lesen. Es sei denn in dem Sinne, wenn Detektive so tun, als ob sie läsen und dabei durch ein Loch in der Zeitung ihr Opfer verfolgen, also bloß vorgeben zu lesen, oder, um in der Zeit zu bleiben, so tun, als ob sie auf ihrem Smart Phone lesen und tippen und dabei alles aufnehmen, was der Verfolgte von sich gibt.

Lesen ist immer analog und es handelt sich nicht darum, einen Speicherinhalt zeichengenau und in der richtigen Reihenfolge auf einen anderen Speicher zu übertragen, wie wir es vom elektronischen Äquivalent erwarten.

Ich weiß noch, dass ich in schönen sonnigen Sommerferien Winnetou III gelesen habe, ich erinnere mich noch an den grünen Einband, er war ein wenig hellgrün, und das bunte Titelbild und ich weiß noch, daß mein Bruder und ich dies auf unserem Hausbalkon taten vor Sonne geschützt durch eine zeltartig aufgespannte braune Wolldecke.

Lesen – ob im Buch oder einem anderen Medium – ist immer ein Veränderungsprozess des Verstandes und des Gemütes mit offenem Ergebnis – und das Gerät oder Buch, das Sie dabei nutzen, bestimmt mit, was dabei in Ihrem Kopf passiert. Und ich habe meine Zweifel, ob Sie wollen, daß Ihre Kinder oder Enkel sich an das Lesen eines einschneidenden Textes dadurch erinnern, wie schmal ihr Smart Phone jeweils gewesen sei. Ich könnte also dazu auffordern, die Geräte, von denen man liest, auf den Stand zu bringen, den das gedruckte Buch in den letzten 500 Jahren erreicht hat – also nicht eine beliebige geräteangepaßte Typographie zu präsentieren, sondern eine gewollte, gestaltete Oberfläche, und einen äußeren Rahmen und Gestalt, der mit dem Inhalt des Textes etwas zu tun hat – zu einem barocken Text möchte ich bitte vielleicht auch ein reagierendes, möglicherweise barock sich gebendes Gerät.

Bilder

Es kann aber auch sein, dass über diese Mißverständnisse hinaus die Vorherrschaft des Virtuellen noch etwas anderes meint.

Ich bin in der Redaktion der lunapark21, einer zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie – und wir bekamen von einem wackeren Blogger das letzte Mal eine Heftkritik, in der er meinte, 2 bis 4 Seiten, das sei ja schon ganz viel Text und sehr theoretisch – aber nützlich. Etwas muß sich also durch die digitalen Medien beim Lesen verändert haben, wenn 2 bis 4 Seiten Text schon als lang und Theorie aufgefaßt werden.

Vielleicht meint sinnvoll Virtuelles einfach, daß Bilder – bewegte und unbewegte, mit den Augen durchschreitbare – eine große Rolle spielen. Diese Form von Virtualität, nämlich daß ein zweidimensionales Bild so angelegt ist, dass es einen dreidimensionalen Raum für unser Auge und Gehirn vorstellt, gibt es auch schon sehr lange – seit der Renaissance bei uns sogar mit Luft-Perspektive. Dass die Mittel und Möglichkeiten des Als-ob durch digitale elektronische Möglichkeiten größer geworden sind, ja sogar mit dem eigenen Körperbewegungen verbunden sein können als 3D-Animation – ist so unbestritten wie langweilig.

Für mich läßt sich an einem Beispiel, dem Dschungelbuch des Rudyard Kipling, leicht ermessen, wie solche Bilder einschränken können. In diesem Falle  waren es die Bilder eines Zeichentrickfilms, die den unheimlichen Kampf im Dschungel einer unsicheren imperialistischen Welt, den ich beim ersten Lesen vor langer Zeit an dem Buch wahrgenommen habe, in das Getolle frohgemuter Teddybären verwandelt haben. Nichts gegen Balu, aber das ist eine andere Geschichte als das Dschungelbuch von Kipling. Bilder können also auch – und sie tun es gelegentlich sehr gründlich – die Phantasie totmachen.

Die wildesten, die obszönsten, die erschreckendsten und aufregendsten, die den Tag verschönernden und die Nacht Durchwachen machenden Bilder, die heitersten und schmerzlichsten, die krankmachenden und die beruhigenden  Bilder entstehen – Sie ahnten es schon – nicht auf dem Papier, sondern in Ihrem Kopf – ausgelöst durch immer neue  Variationen der Anordnung von 26 Buchstaben.

So wenige Zeichen sind es in unserer Sprache und Zeichensystem. Es können aber auch 6.400 üblicherweise verwendete sehr bildhafte Zeichen des Chinesischen sein, die wir im chinesischen Zirkel in der Druckerei J.J. Augustin in Glückstadt seit 1926 finden. Deren Herstellung  durch Kopierfräsen der Gießmatrizen von Schablonen durch Daniel Janssen und Gießen auf einer Monotype des Museum durch Erich Hirsch nach einer Vorlage der chinesischen Künstlerin und Kalligraphin Ping Qiu haben Maria Hemmleb und Artur Dieckhoff in dem Film Chinesische Radikale dargestellt, den wir vier Mal während der Messe vorführen.

Lesen

Egal, ob 26 oder Hunderte von Zeichen, beim Lesen trifft das Verstehen dieser Zeichen Sie in einer je besonderen Verfassung an, vielleicht, wenn Sie gerade Tee schlürfen und den Wind ums Haus heulen lassen. Und das Leseergebnis wird immer anders sein – je nachdem, in welcher Lage oder Seelenzustand Sie sich befinden.

Oder kennen Sie etwa nicht den Effekt, dass ein Buch, das Sie vor Jahren als einschneidend und umwälzend empfunden haben, sich bei neuerlicher Lektüre nach Jahren und Jahrzehnten als echter Langweiler herausstellt, dem Sie nicht mehr ablesen können, warum es bei ihnen eine solche Veränderung bewirkt hat? Bücherfreunde sollen Texte, die ihre Bedeutung für sie behalten haben, zuweilen dadurch ehren, dass sie ihn nochmals in einer schön gestalteten Ausgabe besitzen möchten – nicht der schlechteste Grund, Bücher auf dieser Messe zu erwerben.

Bei den Werken, die Sie auf dieser Messe bemerken, betrachten, befühlen können, können Sie sicher sein, dass sie nach Qualität ausgesucht sind – dass die Gestaltung danach befragt worden ist, ob sie dem Textverständnis hilft, ob die manchmal beigefügten Illustrationen Ihre Phantasie durch Vollständigkeit stillstellen könnten oder gerade in andere Welten entführen, an die Sie beim Text eben nicht gedacht haben.

Lassen Sie sich also bitte auf die Produkte dieser Buchkünstler, der Entwerfer, Gestalter, Drucker, Verleger ein, die ihre Anlässe und Entscheidungen bei dem Machen von gedruckten Texten Ihnen hoffentlich genußvoll entfalten werden.

Und wir werden hinterher prüfen, ob das gelungen ist. Wir werden das nicht durch elektronisches Erfassen der Augenbewegungen und des Schluckens ob des notwendigen Preises feststellen, auch nicht durch Besucherbefragung am Ausgang, wo Sie höchstens feststellen können, daß Sie einen ganz anderen Geschmack haben als viele andere – sondern wir werden es an Ihren Augen ablesen können, ob die Bücher auf dieser Messe das geschafft haben, was ein hohes Ziel des Lesens ist – Ihre Gemütsverfassung zu verändern, Ihren Geist zu beflügeln und Ihre Phantasie auf die Reise zu schicken.

Jürgen Bönig, Technikhistoriker, leitete mehr als 25 Jahre die Abteilung Grafisches Gewerbe im Museum der Arbeit in Hamburg

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