Ein Buchprojekt von Peter Malutzki zu einem Gedicht von Clemens Brentano
Fotos: Ines von Ketelhodt
Mein relativ kleines 56-seitiges Heft aus Pergaminpapier (in bedrucktem Schuber) beschäftigt sich ausschließlich mit einem Gedicht von Clemens Brentano, über das Hans Magnus Enzensberger schreibt:
»[…] Ein lahmer Weber kann seine Arbeit nicht mehr tun, eine kranke Lerche nicht mehr fliegen; und zwar ist es nicht irgendein Defekt, der diese Wesen versehrt, sondern einer, der sie im Innersten betrifft. Erst in ihrem Gesang nämlich kommt die Nachtigall eigentlich zu sich selbst. Dies aber […] gelingt der stummen Nachtigall nur im Traum. […] Die Katastrophe des Gedichtes ist die Zerstörung des Traums durch ›die Wahrheit‹. Es ist wiederum von keiner philosophischen, abstrakten Sache die Rede, sondern von einer lebendigen Macht, einem Geschöpf der Innenwelt, das leibhaftig (›mutternackt‹) auftritt als Führerin eines Heerhaufens starker sinnlicher Reize, heller Töne, greller Lichter.«
(Hans Magnus Enzensberger, Brentanos Poetik, München 1961)
Mich hat an dem Gedicht besonders der Kontrast zwischen Traum und schmerzlichem Erwachen fasziniert. Ich hatte gleich bildhafte Assoziationen: Nichts lag näher, als Brentanos Wunschträumer in den Gesichtern friedlich Schlafender zu sehen, die geschlossenen Augen ein allgemein verständliches Symbol der Ruhe. Im Kontrast dazu: das plötzliche Erwachen, sofort unmißverständlich präsent in den weit geöffneten Augen der »nackten Wahrheit«. Aus der Traum. Mach dir nichts vor. Sieh den Tatsachen ins Auge. Oder: träum’ weiter. Man kennt die Sprüche.
»Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen«, mit dieser Zeile ändert sich der Ton des Gedichts. Dem Erwachen folgt die schmerzliche Erkenntnis, daß die süßen Wunder einsam untergehen. Die Augen der Personen im Buch sind von diesem Moment an offen. Es sind keine friedlichen Gesichter mehr. Ernst oder schmerzlich verzerrt schauen sie uns an. Das letzte Gesicht ist einem Porträt des Dichters Clemens Brentano entnommen. Auch er wendet sich uns ernst zu. Er ist seit mehr als 170 Jahren tot, kann die schrecklichen Wahrheiten unserer Zeit nicht kennen.
Das Bildmaterial stammt aus dem Internet, wurde in Photoshop bearbeitet und mit Polymer-Klischees im Vierfarb-Buchdruck gedruckt. Für die Porträts mußten also jeweils vier Klischees angefertigt werden, eines für jede Farbe. Die einzelnen Farben sind aber nicht, wie gewöhnlich, auf einer Seite übereinander gedruckt. Das verwendete transparente Pergaminpapier machte es möglich, die vier Farben über vier Seiten zu verteilen. Auf die Vorderseite des ersten Blattes ist die Blau-Platte gedruckt, auf dessen Rückseite die gelbe, auf die Vorderseite des zweiten Blattes die rote und auf dessen Rückseite die schwarze. Ein Bild ist also über jeweils vier Seiten (zwei Blätter) des Heftes verteilt. Man hat einerseits die Möglichkeit, beim Blättern die einzelnen Farben, aus denen sich das Vierfarb-Bild zusammensetzt, wahrzunehmen. Andererseits ermöglicht die Transparenz und Lichtdurchlässigkeit des Papiers aber auch die Zusammenschau der übereinander liegenden Farben.
Der beste Vierfarb-Eindruck entsteht, wenn man die beiden Blätter, die alle vier Farben eines Bildes enthalten, zusammen gegen das Licht hält. Die Lichtsituation, in der sich der Leser/Betrachter befindet, spielt also eine wichtige Rolle und kann zu den unterschiedlichsten Eindrücken beim Betrachten führen. Jeweils zwei Zeilen von Brentanos Gedicht, auf das gleiche Pergaminpapier gedruckt, liegen zwischen den Farbporträt-Seiten. In gewisser Weise fungieren sie auch als Trennblätter zwischen den Bildern.
Peter Malutzki studierte von 1973 bis 1977 Grafik-Design an der Fachhochschule Mainz mit dem Schwerpunkt Buchgestaltung bei Wilhelm Neufeld und Hans Peter Willberg. Er war 1980 bis 2000 Mitglied der FlugBlatt-Presse.
1991 Arbeit am Rheinbuch, das in den folgenden Jahren in verschiedenen Einzelausstellungen gezeigt wurde.
Von 1997 bis 2006 Zusammenarbeit mit Ines von Ketelhodt am 50-bändigen Buchkunstprojekt Zweite Enzyklopädie von Tlön